Tagungsbericht Genderpanel KOOP-LITERA 2025
Die KOOP-LITERA Österreich Tagung 2025 fand von 24. bis 26. September, anlässlich des 60. Geburtstags der Dokumentationsstelle für neue österreichische Literatur, im Literaturhaus Wien statt und wurde maßgeblich von Stefan Maurer konzipiert. Nach dem Festvortrag von Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund) mit dem Titel Literaturarchive als Institutionen der Fürsprache. Ein Konzeptaufriss begann ein breitgefächertes Programm: von der Provenienzforschung im Archiv bis zu den archivarischen Herausforderungen im Zeitalter der Digitalität. Am letzten Veranstaltungstag wurde das zur KOOP-LITERA Österreich Tagung 2023 in Graz eingeführte Gender-Panel aufgegriffen und thematisch weitergeführt.
Neben der Präsentation des Dossiers Kulturarchive und Gender (Hg. von Arnhilt Inguglia-Höfle, Verena Lorber und Ursula Schneider, 2025) von Arnhilt Inguglia-Höfle und Verena Lorber und einem umfassenden Arbeitsbericht der Obfrauen des 2025 gegründeten Netzwerks Archiv und Gender (NAG*), Hanna Prandstätter und Susanne Rettenwander, widmeten sich drei Vorträge verschiedensten Nachlässen von Frauen.
Die am Anfang des Jahres 2023 durchgeführte Auswertung des Genderverhältnisses in den KOOP-LITERA Österreich Tagungsvorträgen[1] kann mit den Daten aus den Tagungsprogrammen von 2023 und 2025[2] aktualisiert werden. Auf den KOOP-LITERA Österreich Tagungen zwischen 2001 und 2025 wurden insgesamt 64 Vorträge mit der Nennung von Personennamen im Vortragstitel gehalten, wobei sich davon 52 Vorträge auf Männer, 9 Vorträge auf Frauen und 3 Vorträge auf Männer & Frauen bezogen.
Abb. 1. Genderverhältnis in den Tagungsvorträgen der KOOP-LITERA Österreich pro Zeitraum in Prozent.
Abb. 1. zeigt die zeitliche Entwicklung der relativen Anteile der Vorträge zu Männern, Frauen und Männer & Frauen pro Vortragszeitraum. Während sich in den Zeiträumen bis 2020 ein relativer Anteil von maximal 10 % an Vorträgen zu Frauen festmachen lässt, kann ebenso abgelesen werden, dass im Zeitraum 2021–2024 der relative Anteil an Vorträgen zu Frauen auf 30 % ansteigt. Mit der KOOP-LITERA Österreich Tagung im Jahr 2025 ereignet sich eine dreifache Premiere: Zum ersten Mal in der Geschichte der KOOP-LITERA Österreich wurde (a) kein einziger Vortrag zu Männern; (b) gleich zwei Vorträge mit jeweils zwei Frauennamen; (c) der erste Vortrag von einem Mann über Nachlässe von Frauen gehalten.
Die drei Vorträge des Gender-Panels werden im Folgenden kurz präsentiert.
Verena Lorber: Einblicke in ein bewegtes Leben: Der Nachlass von Franziska Jägerstätter
Abb. 2. Franziska Jägerstätter, Digitalisat Franz und Franziska Jägerstätter Institut
Der Vortrag widmete sich Franziska Jägerstätter und ihrer Rolle als Nachlassgeberin. Seit Juni 2023 ist die digitale Edition der Schriften von, an und über Franz Jägerstätter online und hat sich seither zu einer Forschungsplattform entwickelt. Während der Editionsarbeit entstand ein enger Austausch mit der Familie. Dabei zeigte sich, dass Franziska Jägerstätter (1913-2013) über Jahrzehnte weitere für die Forschung relevante Quellen sammelte. Teile dieses Nachlasses, darunter Briefe, Postkarten sowie eine umfangreiche Fotosammlung, konnten im Programm „Kulturerbe digital“ (2023–2024) digitalisiert, archiviert, veröffentlicht und teilweise in die Edition integriert werden.
Ein Schwerpunkt des Projekts lag darauf, Franziska Jägerstätters eigenes Leben sichtbarer zu machen. Die neu erschlossenen Quellen bildeten die Grundlage für den Beitrag der Referentin »Und was ist mit meinen Briefen? Die Witwe Franziska Jägerstätter als dramatis persona in der Erinnerungs- und Gedenkarbeit« (Mitteilungen des Brenner Archives, Nr. 43).
Der Vortrag zeigt, welche Rolle Franziska Jägerstätter als zentrale Akteurin – Bewahrerin und Gestalterin des Bestands, Protagonistin der Erinnerungsarbeit und Impulsgeberin für Forschung – bei der Überlieferung spielte. Zugleich wird deutlich, dass Witwen häufig maßgeblich an der Bestandsbildung und Überlieferung beteiligt sind. Sie beeinflussen aktiv Struktur und Zusammensetzung von Nachlässen und entscheiden darüber, welche Quellen aufgenommen und wem sie wann und in welchem Umfang zugänglich gemacht werden.
Harald Gschwandtner: Mutter und Tochter im Archiv. Die Nachlässe von Christine Heidegger und Meta Merz
Abb. 3. Titelfolie zum Vortrag, Harald Gschwandtner, LAS
Seit 2024 verwahrt das Literaturarchiv Salzburg den gemeinsamen Nachlass von Christine Haidegger (1942–2021) und ihrer Tochter Christina Haidegger (1965–1989), die den Großteil ihrer Texte unter dem Pseudonym Meta Merz veröffentlicht hat. Christine Haidegger, die mit ihrem im Rowohlt Verlag erschienenen Debütroman Zum Fenster hinaus. Eine Nachkriegskindheit Ende der 1970er Jahre für Furore gesorgt hatte, war eine zentrale Integrationsfigur im Salzburger literarischen Leben: etwa als Mitbegründerin der Salzburger Autorengruppe und als Vorsitzende der Salzburger Dependance der Grazer Autorenversammlung sowie als eine der zentralen Protagonist:innen bei der Einrichtung des Literaturhauses Salzburg. Durch den frühen Tod ihrer Tochter fungierte Christine Haidegger über mehr als drei Jahrzehnte hinweg als deren Nachlassbearbeiterin, hat zwei Bücher mit Texten von Meta Merz im Wiener Frauenverlag publiziert und zahlreiche Gedenkveranstaltungen organisiert. Mit den beiden Nachlässen geraten nicht nur zwei Generationen der österreichischen Literatur und zwei Generationen feministischen Schreibens in den Blick, sondern auch Praktiken familiären Schreibens: Nicht nur die beiden Autorinnen, sondern auch Eberhard Haidegger (* 1940), Christine Haideggers Ehemann und Vater von Meta Merz, war als Schriftsteller tätig. Korrespondenz und Aufzeichnungen von Meta Merz zeugen vom Bemühen einer jungen Autorin, sich von ihrem Elternhaus zu emanzipieren, in dem sie zugleich gute Voraussetzungen für eine schriftstellerische Karriere vorfand: zwar wenig ökonomisches Kapital, aber ein literaturaffines Umfeld, Kontakte – und nicht zuletzt Verständnis für ein Leben abseits von Konventionen.
Arnhilt Inguglia-Höfle und Susanne Rettenwander: Die „Ein-Mann-Buchstabenfabrik“ und die Pionierin der phantastischen Literatur: Christine Nöstlinger und Vera Ferra-Mikura am Literaturarchiv der ÖNB
Abb. 4. Christine Nöstlinger 1984, LIT/ÖNB
Die Nachlässe von Christine Nöstlinger und Vera Ferra-Mikura befinden sich seit 2025 bzw. 2023 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und erweitern den dortigen Sammlungsschwerpunkt zur österreichischen Kinder- und Jugendliteratur um zwei herausragende Bestände.
Der Nachlass Christine Nöstlingers dokumentiert die Entstehung ihrer frühen Werke, insbesondere Die feuerrote Friederike (1970), deren figurgebende Zeichnungen lange vor dem Text entstanden. Hervorzuheben sind zahlreiche Illustrationen aus dem Familienkreis, darunter Arbeiten ihrer Töchter Barbara Waldschütz und Christiana Nöstlinger, sowie verschollen geglaubte Zeichnungen aus der Studienzeit der Autorin. Ergänzt wird der Bestand durch Notizbücher, Manuskripte, Leser:innenpost und Fotografien. Zugleich offenbart er die von begrenzten Ressourcen, kollaborativen Arbeitsweisen und gesellschaftlichen Wertungsmechanismen geprägten Bedingungen weiblicher Autorschaft.
Abb. 5. Vera Ferra-Mikura 1950er Jahre, LIT/ÖNB
Der Nachlass der Pionierin der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, Vera Ferra-Mikura, birgt überraschendes Material jenseits ihrer bekannten Erfolgswerke. Neben einer vollständig erhaltenen Sammlung von Erstausgaben finden sich umfangreiche biografische Dokumente, frühe Schreibversuche, das Debüt in der Zeitschrift PLAN sowie eine nahezu unbekannte Sammlung realistischer Kurzprosa aus den 1940er bis 1960er Jahren. Diese Texte zeugen von sozialkritischem Blick, Empathie für gesellschaftlich Marginalisierte und einer literarischen Spannweite, die weit über ihr phantastisches Werk für Kinder und Jugendliche hinausreicht.
Beide Nachlässe eröffnen neue Perspektiven auf Autorinnenschaft, Überlieferungs- und Archivierungsprozesse und die Vielfalt österreichischer Kinder- und Jugendliteratur.
[1] Vgl. Rettenwander, Prandstätter u.a.: „Es ist Zeit, dass Bewegung in die Sache kommt.“ Quantitative Erhebungen zum Genderverhältnis in der österreichischen (Kultur-)Archivlandschaft. URL: https://ulb-dok.uibk.ac.at/download/pdf/12647789.pdf
[2] Im Jahr 2024 fand die KOOP-LITERA International Tagung in Luxemburg statt, die von der Zählung ausgenommen ist.