Unboxing Gertraud Cerha

von Gundula Wilscher

Im November 2023 fand an der Kunstuniversität Graz im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts "Der Musikerinnennachlass als Gedächtnis-Speicher“[1] das internationale Symposium „Out of the Box! Vom Archiv in die Musikgeschichte“ statt. Die interdisziplinären Symposiumsbeiträge widmeten sich dem dynamischen Feld Archiv – Gender – Gedächtnis – Musikhistoriographie und sollen nun als Sammelband bei Böhlau erscheinen.

In ihrem Beitrag „Unboxing Gertraud Cerha. Zu genderspezifischen Aspekten im Archivbestand eines Künstler-Ehepaars” reflektiert Gundula Wilscher (Archiv der Zeitgenossen) über den Bestand der Pädagogin, Musikerin und Musikvermittlerin Gertraud Cerha und zeigt, wie sich deren musikkulturelles Handeln im Vorlass ihres Mannes, des Komponisten Friedrich Cerha (1926-2023), materialisiert.

Gertraud Cerha – Pädagogin, Musikerin, Musikvermittlerin

Gertraud Cerha (geb. Möslinger) wurde 1928 geboren und wuchs in Gmunden (OÖ) auf. Sie studierte in Wien Klavier, Musikerziehung, Geschichte und Cembalo. Ab 1950 unterrichtete sie 30 Jahre lang Musik an einem Wiener Gymnasium und lehrte von 1961–1987 Generalbass an der damaligen Musikakademie Wien (heute mdw). 1988 konzipierte sie das Symposium zum ersten Wien Modern Festival, 2009 erhielt sie das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Als Expertin für musikkulturelle Entwicklungen in Österreich ab 1945 ist sie heute noch gefragte Autorin und Gesprächspartnerin.

Friedrich und Gertraud Cerha lernten einander im Studium kennen und heirateten 1952. Gemeinsam forschten sie zu Alter Musik und gründeten Ensembles wie die Camerata frescobaldiana und 1958 mit Kurt Schwertsik die reihe. Gertraud wirkte als Musikerin, Organisatorin und Vermittlerin. Sie spielte bei wichtigen Uraufführungen (u. a. György Ligeti), programmierte mit ihrem Mann den Konzertzyklus Wege in unsere Zeit für das Wiener Konzerthaus und hielt vor den Konzerten Einführungsvorträge, die sie für eine Sendereihe des österreichischen Rundfunks umarbeitete. Gertraud Cerha war und ist keine unsichtbare Persönlichkeit. Welche Aspekte ihres Wirkens jedoch in der Öffentlichkeit hervorgehoben wurden, scheint bis heute wesentlich durch Narrative rund um die sogenannte „Künstler-Ehe” geprägt zu sein, wie im Beitrag dargestellt wird.[2]

Vom Konvolut zum eigenständigen Bestand

Der erste Teil von Gertraud Cerhas Vorlass wurde 2010 mit dem Vorlass ihres Mannes an das Archiv der Zeitgenossen in Krems (NÖ) übergeben. Im Zuge der Erschließung und durch kontinuierliche Nachlieferungen wurde die Bedeutung und der Umfang dieser zuerst als Konvolut, dann als „Kryptobestand” geführten Sammlung immer evidenter. Anlässlich der Übernahme des Nachlasses von Friedrich Cerha im Jahr 2023 wandte sich das Archiv auch aktiv an Gertraud Cerha mit der Bitte, jene Materialien zu übergeben, die unabhängig vom Wirken ihres Ehemannes entstanden waren. Ab diesem Zeitpunkt wird die Sammlung Vorlass Gertraud Cerha als eigenständiger Bestand geführt und auch auf der Website des Archivs der Zeitgenossen explizit sichtbar gemacht.[3]

Analog zu „Unboxing”-Videos in sozialen Medien, wo beim Auspacken von Produkten die Verpackung im Detail kommentiert wird, fokussiert „Unboxing Gertraud Cerha” nicht ausschließlich auf den primären Inhalt des Bestands. Von besonderem Interesse sind vielmehr verschiedene Paratexte – Ordnungsstrukturen, Beschriftungen oder Anmerkungen. Diese Elemente verweisen auf jene Akteur:innen, die in Zusammenhang mit Überlieferungsprozessen eine Rolle spielen. Gerade im Hinblick auf die Sichtbarmachung von Beständen von Frauen kommt solchen paratextuellen und materiellen Ebenen eine zentrale Bedeutung zu: Sie ermöglichen es, Aktivitäten, Beiträge und Autor:innenschaften offenzulegen, die in klassischen Erschließungsvorgängen leicht übersehen werden können.

Der Tagungsband Out of the Box. Vom Archiv in die Musikgeschichte wird von der Projektleiterin Michaela Krucsay herausgegeben. Geplantes Erscheinungsdatum ist Mai 2026.[4]

  

[1] https://genderforschung.kug.ac.at/forschung/forschungsaktivitaeten/forschungsprojekte/michaela-krucsay

[2] Zu diesem Themenkomplex seien zwei wesentliche Publikationen genannt: Christine Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe. Ein Phänomen der bürgerlichen Musikkultur, Köln: Böhlau, 2021, sowie Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld (Hgg.), Paare in Kunst und Wissenschaft (= Musik – Kultur – Gender Bd. 18), Köln: Böhlau, 2021.

[3] Vorlass Gertraud Cerha | Archiv der Zeitgenossen

[4] Out of the Box | Musikwissenschaft | Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften | Themen entdecken | Vandenhoeck & Ruprecht Verlage

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Workshopreihe “Gender und Humor”

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(Kultur)Archive und Gender. Themenschwerpunkt bei der KOOP-LITERA Arbeitstagung 2023